homolka_reist

Radausflug in die Bronzezeit

Die beeindruckenden Bilder von mykenischen Grabhügeln kenne ich schon lange, spätestens seit unser Herr Papa meinen Bruder und mich mit dem seiner Meinung nach schönsten Land überhaupt bekanntgemacht hat. Es ist tatsächlich fast ein halbes Jahrhundert her, als wir in brütender Hitze Mykene erkunden durften. Mutti hatte frühmorgens Brot, Paradeiser und – jawohl! – Coca Cola besorgt, nun sassen wir auf einem Stein in der Landschaft und erhielten unsere Lektion in Sachen erster Zivilisation Europas.

Der Philhellenismus dürfte in unserer Familie eine Erbkrankheit sein, bei mir ist sie jedenfalls sofort manifest geworden, mittlerweile lebe ich hauptsächlich in Athen. Die Stadt kenne ich fast so gut wie ein Taxler, und zwar einer vom alten Schlag, also vor der Ubiquität von Satelitennavigation in der Serienausstattung. Das kommt nicht von ungefähr, nein, ich versuche mich seit Jahrzehnten gezielt zu verirren, und zwar so lange, bis sich mir die Stadtstruktur erschlossen hat. Zumindest im jeweiligen Quadranten, also einem Viertel, das zu erkunden mir lohnend erscheint.

Da gibt es jene, bei denen dies nahe liegt, wo sich auch Touristen hin verirren, und dann solche wie Acharnes. In der Antike als Acharnaia eine attische Demos, also eigenständige Gemeinde mit 22 Gesandten im Attischen Rat. Thucydides schreibt Acharnaia liege 60 Stadien von Athen entfernt, also jenem Teil davon wo sich Touristen heutzutage auf die Zehen steigen, modern metrisch sind es etwa 15 Kilometer. Unter dem supermodernen Verwaltungsgebäude der griechischen Nationalbank gegenüber des Rathauses kann man die Reste der alten Stadtmauer bestaunen, und jenes Tor, durch welches die Acharnon Strasse die Stadt verliess. Zum Glück gibt es in Griechenland ein Gesetz, welches Archäologische Zeugnisse der Hochzeit Griechenlands unter strengen Schutz stellt. Und, im Gegensatz zu etlichen anderen, auch rigoros umgesetzt wird. Ganz so wie i fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, als Themistokles die Errichtung einer mächtigen Mauer anordnete, um die wieder einmal anmarschierenden Perser hintanzuhalten.

Deren Reste kann man nun überall dort sehen, wo aufgrund unterschiedlichster Bautätigkeiten im zwanzigsten Jahrhundert die obersten fünf Meter der Erde abgetragen wurden. Oder, wie auf beziehungsweise unter der Plateia Klavthmonos, eine Tiefgarage die Befestigungsanlage sogar am Fundament sichtbar macht. Im Park obendrauf kann man die Mauer auch noch erkennen, wenn man weiss, was man da sieht. Und auf der Plateia Kotzia vor dem Rathaus erkennt man noch deutlich den Verlauf der Strasse nach Acharnes hinaus, gesäumt von Grabmälern, schliesslich wollte man die Toten lieber nicht in der Stadt haben.

Dafür konnte man sich ihrer erinnern, wenn man eine Reise antrat. Und sie womöglich um Beistand und Fürsprache im Jenseits bitten. Religiöse Praktiken sind ja vielfältig und nicht immer vernunftgetrieben, Rituale helfen hingegen immer, Vertrautes beruhigt. Die alte Strasse nach Acharnes verschwindet unter der modernen Stadt, taucht aber kurz später wieder auf, jetzt sogar für modernen Strassenverkehr geeignet. Vom Platz der Einheit (Omonia) zu jenem der Unabhängigkeit Anexartiseias schlängelt man sich um ein paar Häuserblocks die alles andere als mondän wirken. Nichtsdestotrotz dürfte die zentrale Lage Investoren anziehen, etliche Hotels findet man hier, manche nicht mal schlecht. Und rund um die Plateia ein Speisenangebot, welches teilweise als Halal zu beschreiben ist.

Fünf Strassen münden in den Platz, was die Eckhäuser wie Tortenstücke formt, Acharnon Nummer 1 ist architektonisch durchaus interessant. Die Nutzung passt zur polyglotten Erscheinung des Viertels, das einstige Bürogebäude dient jetzt als Flüchtlingsheim. Was sich als Thema übrigens etliche Blocks nach Osten weiterzieht, das Hotel Plaza etwa war im April 2016 von Flüchtlingen und einem selbst ernannten Solidaritätskommitee besetzt und zur Unterkunft umgenutzt worden. Wenig überraschend ist es also, dass die rechtsradikale Partei „Goldene Morgenröte“ ebenfalls hier in Aghias Pantelemaionas ihren Ursprung hat.

Der Name des Viertels kommt wenig überraschend von der Kirche, die, je nach Quelle, als Grösste Griechenlands gilt. Auch hier rundherum Menschen unterschiedlichster Herkunft, genau wie die zahlreichen Fastfood Buden, Afghanisch, Äthiopisch, Halal oder nicht, alles da. Auch griechisch Essen kann man allenthalben, wobei auch da der eine oder andere Wirt nicht umhin kann, seine Herkunft genauer zu verorten. Ja, wir sind wieder mal in einer Gegend, in der Griechen aus Kleinasien siedelten.

Und hier weit ausserhalb der Stadt, also damals, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, findet sich auch so manche Industrieruine während weiter unten Patissia ein durchaus angesehener Wohnort war, sieht man noch heute an schönen Exemplaren lokalen Neoklassizismus. Immer wieder kreuzen Gassen welche die Namen ägäischer Inseln tragen, und dort, wo die Acharnon die Metro kreuzt steht ein interessanter moderner Neubau, der scheinbar aus einer winzigen Kirche wächst. Das Ensemble gehört der Erzdiözese Syros und dient als Studentenheim. Beneidenswert, diese Syrischen Studenten. Also die ägäischen halt, vor Allem wenn sie weit oben mit Blick auf Parnitha und Penteli wohnen, die Metrostation Kato Patissia haben sie auch gleich vor der Tür.

Weiter geht’s bergauf bis zu einer verwirrenden Kreuzung, Fussgänger oder Radfahrer sind den griechischen Strassenplanern offensichtlich verdächtig, dafür dürfen sich die Autofahrer freuen. Hier allerdings auch mal ein Fluss, der Perissos kommt von Osten plätschernd in die Stadt, man hat ihm hier sogar ein eigenes oberirdisches Bett gegönnt, passt zum folgenden Stadtteil Nea Philadelphia. Der Ort wurde ab 1927 beidseitig der alten Landstrasse nach Dekeleia, heute Stadtteil Acharnes´, als Gartenstadt angelegt. Was man merkt, wenn man zur Stosszeit durch fahren will, ganz klar in einer anderen Epoche geplant. Mir soll´s recht sein.

Weiter geht’s also auf der Dekelias, von der biegt vor dem Alsos Philadelphias, hochtrabend „Forrest“ übersetzt links die Pindos ab, welche bald unter der Autobahn und über den Kifissos Fluss schliesslich nach Acharnes führt. Der Fluss, welcher zwischen Penteli und Parnitha entspringt, ist etwa 27 Kilometer lang, in Athen selbst meist unsichtbar, da sein Bett als Trasse der Autobahn genutzt wird oder sonstwie überbaut ist. Hier oben jedoch läuft er grossteils noch oberflächlich, um nach Acharnes zu gelangen muss man ihn bei Kokkinos Mylos überqueren. Der Stadtteil am linken Ufer heisst Kokkinos Mylos, die „rote Mühle“ erinnert dem Namen nach an jene Zeit, als das Getreide des Attischen Beckens noch mit Wassermühlen gemahlen wurde. Heute wachsen auf den Feldern weder Roggen noch Weizen, immerhin wird noch Salat und Gemüse im Schatten der mittlerweile hierher vorgedrungenen Industriehallen geerntet.

Am gegenüberliegenden Ufer bezeugt ein riesiger Friedhof, dass hier schon seit einiger Zeit ein Auskommen zu haben ist. Im schatten der neuen erkennt man die Fundamente einer wesentlich älteren Brücke, irgendwie erinnert der Ort an jene in Nepal. Dort wird die Asche der Verstorbenen in aller Demut einem heiligen Fluss bergeben, was hier natürlich undenkbar ist. Erstens pflegen wir andere Bräuche, zweitens: heilig? Wenn dem so wäre, würden die Menschen wohl mehr Rücksicht gegenüber der Natur zeigen.

Die Strasse steigt nach der Flussüberquerung stetig an, nach Südosten öffnet sich die Aussicht hinüber auf die nördlichen Vororte Athens, man ahnt Kifissia unterhalb des Penteligipfels. Diesseits des Ufers und der Autobahn teilen sich Gemüsefelder und Industriehallen das Land, dann beginnt das Ortsgebiet von, nun ja, offiziell heisst´s Menidi, doch bald stösst man auf ein Schild, das ein Mykenisches Hügelgrab ankündigt. Auch hier liegt der Begräbnisort ausserhalb des antiken Stadtzentrums, zum Amphitheater geht man noch eine Weile, zum Fluss hinunter nur kurz.

In einem kleinen Kiosk neben der kleinen Tür im Zaun empfängt eine Fremdenführerin, sie kommt mit und knipst das Licht an. Und erklärt gerne, was auch auf kleinen Hinweisschildern vermerkt ist, nämlich die Geschichte diese Luxusgrabs aus vorhellenischer Zeit. Man kann annehmen, dass Das Grab in etwa 1400 v.uZ. errichtet wurde, sechs Individuen dürften darin bestattet worden sein, anhand der Grabbeigaben sowie Grösse und Ausstattung kann man davon ausgehen, dass es sich um hochgestellte Persönlichkeiten gehandelt hat.

Im 12. Jahrhundert wurde der Eingang zugemauert, das Grabmal verschlossen und mit Erde aufgefüllt. Danach hat es offensichtlich der Heroenverehrung gedient, Funde lassen auf Speiseopfer schliessen, im 5. Jahrhundert scheint auch diese Nutzung ihr Ende gefunden haben, die Einwohner von Acharnes dürften im Peloponnesischen Krieg ihre Heimat fluchtartig verlassen haben.

Davor war die Deme Acharnes ein florierendes Wirtschaftszentrum, neben Wein- und Ackerbau lieferte man Holzkohle nach Athen, die man aus den Wäldern des Parnitha gewann. So konnte man sich nicht nur luxuriöse Grabmale leisten sondern auch unterschiedlichen Kulten widmen. Nachdem das mykenische Kuppelgrab 200 Jahre nach seiner Errichtung zum Kultort der Heroenverehrung umgenutzt wurde, behielt dieser Kult dort noch bis ungefähr 500 vor unserer Zeitrechnung, also beinahe ein ganzes Jahrtausend, seine Bedeutung.

Laut Pausanias war Acharnes auch noch Schauplatz zweier Athena Kulte, auch der Arestempel auf der Athener Agora dürfte ursprünglich hier verortet gewesen sein. Und auch der Eid der Athener und der mit ihnen Verbündeten vor der Schlacht von Plataia, in welcher die Perser nach der Niederlage von Salamis auch an Land endgültig geschlagen wurden und die grosse Zeit des Attischen Bundes begann hat hier seinen Ursprung. Nur logisch, dass Acharnes auch ein Amphitheater zu bieten hat. Seit es 2007 tatsächlich gefunden und ein Stück weit freigelegt wurde ist man diesbezüglich auch nicht mehr auf literarische Spekulationen angewiesen.

Dass es ausgesprochen banal in einer Baulücke an der mittlerweile nach ihm benannten Strasse liegt verwundert nun auch nicht mehr. Für mich ist es genau dieses chaotische durch-, über- und nebeneinander von Zeugnissen aus drei bis vier Jahrtausenden. Wer’s lieber ordentlicher hätte ist im Archäologischen Museum gut aufgehoben, etwa der Sammlung von Acharnes gleich in der Nähe, oder im Nationalmuseum. Das hätte man vom Athener Acharnes Tor zu Fuss in einer knappen Viertelstunde erreicht, dabei aber viel versäumt. Wenigstens gelangt man vom hiesigen Museum rasch zum Bahnhof von Acharnes und von dort im Idealfall in einer knappen halben Stunde wieder am Omonia Platz. Mit dem Fahrrad dauert´s ein Bisschen länger, aber immerhin geht’s meist bergab.

Dieser Beitrag wurde am 2024/12/23 um 13:48 veröffentlicht. Er wurde unter athen, attika, greece, griechenland, ΠΕΡΙΠΑΤΟΙ abgelegt und ist mit , , , , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

Ein Gedanke zu „Radausflug in die Bronzezeit

  1. Avatar von Claus RiedlClaus Riedl sagte am :

    Wiewohl ich kein Städtereisender bin- von Athen kenne ich nur Hafen, Akropolis und Vororte- freue ich mich immer, dass es Menschen wie Homolka gibt, deren Berichte so authentisch sind, da sie tatsächlich in so einem städtischen Chaos leben (wollen). Da man einerseits interessiert ist, aber nicht für alles Zeit haben kann, ist man auf diese Schilderungen angewiesen und muß nicht zwingend alles selbst besuchen. Danke

    Von meinem iPad gesendet

    >

    Like

Hinterlasse einen Kommentar