homolka_reist

atempause

Marseile ist als europäische Kulturhauptstadt 2013 in aller Munde, tatsächlich wurde die Ehre jedoch nicht nur der Stadt sondern der gesammten umgebenden Region zu Teil. Also MP2013, zweiterer Buchstabe steht für die Provence, und das ist gut so, sollte man nicht vergessen. Denn Marseille kann mit einem atemberaubenden Programm aufwarten, praktisch im Wochenrythmus eröffnet irgendwo in der dynamischen Stadt eine Ausstellung, ein Event oder gar ein ganz neues Museum, soeben erst fertiggebaut, und oft noch inmitten der Baustelle für dessen umgebende Infrastruktur. Denn das Kulturhauptstadtjahr ist nur ein Bruchteil der Aktivitäten rund um die Aufwertung Marseilles die mit der Initiative Euromediterraneé 2000 im Jahre 1995 gestartet und auf 25 Jahre angelegt wurde. Also befinden wir uns zwar im letzten Drittel eines umfangreichen Wandels, uns während der kulturelle Upgrade im Laufe des Jahres tatsächlich -fast- abgeschlossen sein wird, kann der Besucher allenthalben miterleben, wie die darunter liegende und umgebende Infrastruktur der Stadt Tag für Tag ein Stückchen weiter ihrer Fertigstellung 2020 entgegenwächst.
Genau diese Tatsache macht den Besuch erst recht atemberaubend, manch ein Museum sieht man zwar schon von Ferne, doch der Eingang will erst gefunden werden, abgesehen davon bedingt die Einbeziehung des alten Hafengeländes alleine schon ein weitläufiges bespieltes Gelände und mal ganz ehrlich: wer versucht schon den Netzplan fremder Buslinien zu ergründen, wenn der Fussweg durch eine faszinierende 2600 Jahre alte Stadt führt?

Eben! Ich nehme nicht an, dass der Effekt von den Veranstaltern genau so wirklich beabsichtigt war, aber nach ein paar fordendern Kulturtagen im Grossstadtdschungel verspricht das Umland mit einer Reihe von lohnenden Zielen körperliche wie geistige Entspannung und Entschleunigung. Als naheliegendstes Ziel, nicht nur im geographischen Sinne, bietet sich das romantische Fischerdörfchen L´Estaque an. Dorthin hat die Städter schon Anfang des letzten Jahrhunderts gezogen, wenn sie Lust auf frische Luft und, vor Allem, frische Seeigel hatten. Die gelten dem Feinschmecker nämlich zu Recht als besondere Delikatesse, sind allerdings selber recht wählerisch und wollen nur in reinem Wasser leben, weswegen heutzutage auf den Speisekarten der einschlägigen Restaurants neben dem Eintrag `Oursins´ meist auch gleich der Hinweis zu finden ist, man möge sich doch vertrauensvoll mit der Frage nach der Verfügbarkeit an den Servierkörper wenden. Neben den empfindlichen Meerestieren haben auch die sensiblen Maler gefallen an der exquisiten Gegend gefunden, von Cezanne über Renoir bis Braque war die Creme de la Creme hier zu Gast, und hat vor Ort nebenbei mit Imprssionismus, Fauvismus und Kubismus auch gleich epochale Stilrichtnungen auf den Weg geschickt.
Das möchten die Veranstalter von GR2013 mit ihren Gästen auch gerne machen, und wie einst am Besten auf Schusters Rappen, das kryptische Kürzel steht hier nicht für das heurige hellenische Sparpaket, sondern für Grande Randonnée, das grosse Wandern. Nun mag es seltsam erscheinen, einen Wanderweg zum Kulturgut zu zählen, doch dieser hier führt auf seinen 360 Kilometern Gesammtlänge nach Routenvorschlägen von Künstlern an durchaus interessanten Orten vorbei, vom wenig bekannten Vorort über aufgelassene Bahnlinien bis zu in der Landschafft verstreuten Installationen und Interventionen. Die Strecke soll übrigens in 15 Tagen zu bewältigen sein, offizielle gemeinsame Erstbegung ist von 22. bis 24. März angesagt, da kann man sich gleich anschliessen und vermeidet damit sich in Ermangelung nichtfranzösischer Informationen zu verlaufen, ein 200 Seiten starker informativer Wanderführer soll dann im April erhältlich sein.

Den bekommen Sie dann sicher in Aix am Bahnhof, wo auch der tolle TGV aus Lyon hält, und von dort ist´s nicht weit zu einer der eindrucksvollsten Stationen am Wanderweg durch die kulturelle Provence. Das `Camp des Milles´ ist ein weitläufiges Areal in dessen Mitte eine alte Ziegelfabrik steht, welche mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit dem hehren Ziel errichtet wurde, den dringenden Baustoffbedarf des rasch waxchsenden Marseille zu decken. In der Gegend gibt es reichlich Wasser sowie den Lehm, welcher immer noch der Dachlandschafft von Marseille ihren warmen Ton verleiht, sowie schon damals eine Bahnlinie, um die Stadt zu beliefern. Eben diese günstige Verkehrsanbindung war wohl auch mit ein Grund, dass bereits 1939 die französische Regierung begann, aus Österreich und Deutschland geflüchtete Menschen hierher zu bringen und in der geräumigen Fabrik zu internieren. Auch die vor den Truppen Francos aus Spanien geflohenen Freiheitskämpfer landeten hier, heim konnten sie ja nicht mehr, dort wären sie unweigerlich im Lager gelandet, ein Schicksal dem sie allerdings auch in Frankreich nicht entgingen. Da Südfrankreich eh und jeh ein beliebter Zufluchtsort europäischer Künstler und Intellektueller war, liest sich die Standesliste des Camp des Milles wie eine Besetzungsliste, neben Lionel Feuchtwanger und Max Ernst zählte auch der spätere Medizinnobelpreisträger Otto Meyerhof zu den Insassen.
Als letztes erhaltenes Lager wurde es unter der Ägide von Kulturminister Jaques Lang unter Denkmalschutz gestellt, so vor dem Abriss gerettet, und auf Initiative von Alain Chourauqi und dessen Vater André, der in der Resistance aktiv gewesen war, zur Gedenkstätte umgestaltet. Das Bauwerk selbst gibt eindrucksvoll Einblich in den Lageralltag, den sich die Insassen so gut es ging mit Theatervorstellungen und Musikdarbietungen erträglich machten, wie sich anhand der `Abendkasse´ und `Kabaret´ versprechenden bunten Schriftzügen an den Wänden und den dazugehörigen Kulissenmalereien nachvollziehen lässt. Geschlafen wurde zu hunderten am Boden der riesigen wiewohl niedrigen Brennöfen, in einem erhalten gebliebenen Produktionsraum stehen noch die Maschinen zum Ziegelpressen, war wohl keine besonders angenehme Tätigkeit, aber immerhin gab es dort Tageslicht.

Was das Camp des Milles aber auszeichnet, ist dass hier erstmals der Versuch unternommen wurde, nicht nur die Auswirkungen einer totalitären Ideologie zu veranschaulichen, sondern die Mechanismen, die dazu führen, dass sich die Mehrheit von einem diktatorischen System verführen und für seine entmenschlichenden Ziele instrumentalisieren lässt. Immerhin, betont Alain Chourauqui, hat Frankreich das Lager bereits in Betrieb genommen, als es noch ein freies Land war. Die deutsche Besatzung und das Regime von Vichy unter Marschall Petain konnten sich danach einfach eines bereits existierenden Systems bedienen, zu den ausländischen und andersdenkenden Insassen kamen dann noch die jüdischen dazu, von denen über 2000 ihren letzten Weg aus der Provence direkt nach Auschwitz antraten. Die Gedenkstätte ist in drei didaktisch miteinander verbundene Abschnitte unterteilt, äusserst informativ und definitiv einen Umweg wert.
Ganz anderer Natur ist der nächste lohnende Abstecher, etwas nördlich von Aix en Provence sticht einem nach kurzer Suche gegenüber der verfallenen mittelalterlichen Burg von Le Puy Sainte Reparde die einzigartige Architektur des Chateau La Coste ins Auge. Hinter einer riesigen rechteckigen Wasserfläche wartet der von Jean Nouvel extrem reduziert in Beton gegossene, grosszügig verglaste Empfangs- und Degustationspavillion, darunter, und somit die akribisch gestaltete Szenerie nicht verunstaltend, finden die Autos ihre Tiefgarage. Die Weinherstellung erfolgt in riesigen Aluhallen, die nicht nur wie halb versunkene Fässer aussehen, sondern tatsächlich mindestens so tief ins Erdreich wie darüber hinaus reichen, ein dekunstruiertee Musikpavillion aus der Feder von Frank Ghery kompletiert das Ensemble. Nur im Zentrum scheint die Zeit still zu stehen, da laden altmodische Tischchen auf der Terasse des historischen Chateaus zum Verweilen und Verkosten ein.
Doch wird kaum ein Besucher sich mit dem Genuss der feinen Weine begnügen, wenn er hierherkommt, den gibt es schliesslich in diesem Landstrich oft in vorzüglicher Qualität. Was das Chateau La Coste zum einzigartigen Erlebnis macht ist die Leidenschafft der kunstsinnigen irischen Gastgeber, welche die Landschafft ihres Weingutes zum Gesammtkunstwerk gestaltet haben. So wandert man, teils auf den wieder instandgesetzten römischen Steinstrasse, teils über von Landschaftskünstlern angelegten Spazierwegen und Brücken, durch die beeindruckende Sammlung der McKillans vorbei an Franz Wests überdimensionalem gelbem Kunststoffphallus hinauf zur von Tadao Ando meditativ verhüllten romanischen Kapelle. Zweieinhalb Stunden sollte man sich dafür zumindest Zeit nehmen, mindestens zwei mal täglich wird man unter sachkundiger Führung mit den Werken, ihren Schöpfern und der Philosophie ihrer Förderer bekannt gemacht, und das sogar in englischer Sprache, ein Luxus in der frankophonen Welt. Die anschliessende Stärkung im Restaurant verzichtet dafür auf anglikanische Strenge, in der Küche regiert der Chauvinismus, und das ist gut so!

www.mp2013.fr
www.visitprovence.com
www.campdesmilles.org
www.chateau-la-coste.com
www.airfrance.com
info

Dieser Beitrag wurde am 2013/04/20 um 13:00 veröffentlicht. Er wurde unter frankreich, marseille, provence abgelegt und ist mit , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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