homolka_reist

37°97’N+23°72’E

Ort: Tempel der Pallas Athene, Athen
Datum: 28. Juli 2015
Uhrzeit: 12:55

Ich bekenne frank und frei: Ich bin ein ausgewiesener Spezialist, was
das aktuelle Heftthema anlangt. Manche meinen sogar, meine berufliche
Tätigkeit als Reiseautor und Fotograf sei nichts anderes als professionell
sublimierte pathologische Prokrastination. Kann man natürlich
so sehen, muss man aber nicht.Meine griechischen Freunde beispielsweise
halten mich für einen Workaholic, sie meinen, reisen tut
man nur zum Spaß, außer man ist Seemann.
Nicht dass die Griechen ständig auf der faulen Haut liegen würden, ganz im Gegenteil,
immer ist irgendwas zu tun, und meist woanders, also wird dauernd von Alpha
nach Beta gefahren, oft sogar sehr schnell. Und dort gibt es erst einmal jede Menge
Dinge zu besprechen, zu klären, ohne komplexe Diskussionen geht gar nichts, am
besten laut und wortreich, man versteht’s aber meistens auch, ohne irgendwas gehört
zu haben, Gesten und Mimik reichen. Womit das erste Klischee abgehandelt
wäre, viel Lärm um, nein, eben nicht nichts! Der Homo sapiens ist nun mal ein soziales
Wesen, mag sein, dass es den Skandinaviern reicht, irgendwas einfach nur zu
erledigen, ich nehme das allerdings mal eher nicht an.
In Athen steige ich seit Perikles‘ Zeiten bei meinem Freund Kostas im Hotel Orion
ab, am Strefi-Hügel mitten in der Stadt, ich kenne kein besseres, schon gar nicht um
diesen Preis. Auch er lässt sich nicht gerne anmerken, wie hart er arbeitet, stets hat
er das Problem schon gelöst, bevor ein Gast ärgerlich werden könnte. Er tut dabei
aber immer so, als wär’s ihm ein Vergnügen. Ist es wohl auch. „Ist doch herrlich,
mir wird nie langweilig, ich habe mit netten Menschen zu tun, früher oder später
werden sie alle Freunde. Was könnte ich stattdessen mit meiner Zeit anfangen?
Fernsehen vielleicht?“
Tut er nicht. Recht so, sonst gerät er womöglich auch in Rage, wie Panaioti, der
sonst so sanfte Küchenchef mit Berkley-Diplom. Nüchtern analysiert er die Ursachen
der aktuellen Krise der kapitalistischen Welt, Gier und Egoismus da wie dort, Ineffizienz
der Verwaltung und Steuervermeidung auf höchstem Niveau in Griechenland,
ein Überbleibsel des subversiven Widerstands gegen Römer, Osmanen oder
wer auch immer sonst gerade die Gewalt ausübte. „Weißt du, die Deutschen sind
auch nicht effektiver, es sieht bei ihnen nur geschäftiger aus. Uns werfen sie vor, wir würden nur herumsitzen und reden, sie hingegen machen Konferenzen und Meetings. Allerdings mit dem gleichen Ergebnis: Die Probleme bleiben, die Zeche wächst!“
Das Orion verfügt neben vielen anderen Vorzügen über ein Feature, das man in den
anderen besten Häusern der Stadt erheblich teurer bezahlt, eine Dachterrasse
nämlich, von der man einen fantastischen Ausblick auf die Stadt genießt. Und
natürlich auch auf die Akropolis und den Parthenon des genialen Phidias. Den bewundern
stets auch die zufällig hier abgestiegenen Touristen, meist jung, oft amerikanisch
und stets neugierig. Gerüst und Kran bereichern das Bild seit Jahrzehnten,
nicht wenige akzeptieren auch die Mär, sie wären schon seit Baubeginn vor zweieinhalbtausend Jahren dort. Nur zu gerne glaubt man dem Klischee von den
Griechen als Meister der Prokrastination. Sicher, sie beherrschen die Kunst des
eleganten Zeitvertreibs wie kaum ein anderes Völkchen, aber jeden Humbug sollte
man sich von einem gelangweilten Reisejournalisten auf einer Dachterrasse auch
nicht aufbinden lassen.

WIENER_413_Reisefoto.pdf

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Dieser Beitrag wurde am 2016/08/30 um 13:53 veröffentlicht. Er wurde unter athen, griechenland, `WIENER´ abgelegt und ist mit , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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