homolka_reist

chomsky und der bäcker

Dass die Uhren anders gehen auf Ikaria, mit dieser Aussage hatten meine Athener Freunde Recht behalten. „Kommst du `rauf nach Raches?“ lese ich in Angelos´ SMS, klar doch, wir haben schließlich einen Termin! Dass ich nicht pünktlich sein würde war klar, ist in Hellas nicht so wichtig, außerdem gibt es zu viele schöne Orte auf Ikaria, denen man gerne ein wenig mehr Zeit schenkt. Was der Grieche gerne anerkennt, und erst recht der Ikarier, daher fragt er nicht nach dem Wann sondern gleich nach dem Ob!

„Ach die übertreiben doch immer, diese Athener“, wiegelt Angelos ab, angeblich würden in Ikaria die Geschäfte erst spät am Abend öffnen, dafür erst in den Morgenstunden schließen. „So viel anders, als sonst wo auf den Inseln ist es bei uns auch wieder nicht. Nur dass die Menschen hier, vor allem in Raches, noch immer erst auf ihren Feldern, in den Weinbergen oder mit den Tieren arbeiten“, erklärt mir der Berg- und Wanderführer. „Und danach müssen sie erst mal essen, deswegen haben sie erst später Zeit, ihre Besorgungen zu erledigen, ganz einfach!“

Raches ist eine Gemeinde die aus einigen Dörfern und Siedlungen besteht, eigentlich das gesamte westliche Drittel der Insel, mit dem Dorf Raches als Hauptstadt, die eigentlich Christos Rachon heißt. Die restlichen beiden Drittel tragen die Namen nach ihrer wichtigsten Orte Aghios Kyrikos und Evdilos, beide auch Hafenstädte, erstere das ganze Jahr, hier legt die tägliche Fähre aus Samos an. Fähre ist fast schon übertrieben, das bescheidene Schinakl kann grad mal einen Kleintransporter an Bord nehmen, dazu noch ein paar Motorroller und zwei, drei Dutzend Passagiere. Den Rest des Decks füllt man mit Allem, was auf der Insel so gebraucht werden könnte, Paletten mit Mehlsäcken, Klopapier und Büromaschinen begleiten den Besucher auf der Überfahrt. Auch ein Häufchen Touristen findet sich hin und wieder an Deck, nie sind es zu viel, was den Ikariern aber nur recht ist, die blicken jetzt schon sorgenvoll auf den Hochsommer, wenn wieder mal die Athener die Insel heimsuchen.

Wobei man die Sichtweise der Einheimischen in Sachen Massentourismus etwas zurechtrücken muss, selbst die als touristisches Zentrum geltende Gemeinde Armenistis an der Nordküste verfügt über weniger Gästezimmer, als ein durchschnittliches All-Inclusive-Resort an der Kleinasiatischen Küste gegenüber. Der Ort verdankt seine Rolle als Publikumsliebling sicher nicht zuletzt seinem kilometerlangen, hellen Sandstrand. Anfang Juni muss man schon lange suchen, um einen Platz zu finden, wo man andere Badegäste überhaupt nur sieht, nichts desto trotz sind die beiden Beach Bars schon geöffnet. „Jetzt ist es ja noch wirklich schön. Aber im August? Total überlaufen!“ Na ja, kein Wunder, Maria führt mit dem „Bensáo“ eines der beiden Etablissements am Strand, liebevoll ist die weiße Baracke ausgestattet, ein Tarnnetz sorgt für Schatten auf der Terrasse, den Boden macht der Kunstrasen barfußfreundlich weich, ein echtes Surferparadies. „Nein, die vielen Menschen im Lokal stören mich nicht. Aber in der Hochsaison campieren die Menschen am Strand und machen einfach zu viel Müll!“

Die Besucher vom Festland sind hier so scheint es, nicht gar so gern gesehen, dabei ist auch Maria erst vor zwei Jahren von dort nach Ikaria gekommen. Wieder gekommen, sollte man sagen, in Attika aufgewachsen haben sie und ihr Freund beschlossen, die Hektik, aber natürlich auch den Stress der ökonomischen Unsicherheit hinter sich zu lassen, und auf die Insel ihrer Vorfahren zu ziehen. „Man macht sich hier einfach weniger Sorgen, das Leben ist billiger, vor Allem aber genießen wir die Freiheit hier!“ Die beiden haben sich zum Zeichen ihres Neubeginns sogar tätowieren lassen, „Libertad“ steht deutlich sichtbar auf ihrem Unterarm zu lesen. Der kubanische Klang kommt nicht von ungefähr, die Insel ist fest in kommunistischer Hand, alle drei Bürgermeister Ikarias stellt die Kommunistische Partei, nur der letzte Gouverneur war ein Rechter, er war Sozialist, ein Fauxpas, der mittlerweile behoben wurde. Und dass beim Referendum alle mit Oxi, Nein stimmen sowieso keine Frage, „durch den umständlichen Transport auf die Insel kostet hier alles mehr als am Festland, und dann vergönnt uns die Troika nicht mal die reduzierte Mehrwertsteuer“, erklärt ihr Freund nur einen der unzähligen Gründe, mit den Anweisungen aus Brüssel und Bonn unzufrieden zu sein.

Nach dem Arbeitstag am Strand steht Maria mit ihrem Freund, einem Schmuckdesigner, in der gemeinsamen Boutique in Evdilos, von Arbeitszeiten wie in Europa kann man in Griechenland nur träumen. Evdilos ist ein verschlafener Hafenort, noch, denn ab Ende Juni wird wieder mal eine direkte Schiffsverbindung nach Athen aufgenommen, mit einer richtig großen Fähre, dann stellt man Aghios Kyrikos wieder in den Schatten. Zwischen den beiden Städten herrscht eine historische Rivalität um die Ehre der Hauptstadt, die schon seinerzeit, anlässlich der Abschüttelung des Osmanischen Jochs durch die Ikarier selbst die Griechische Regierung nicht sofort durchschaute. Der angesehene Arzt Joannis Malachias hatte, nach Absprache mit dem ihm freundschaftlich verbundenen, griechisch stämmigen, osmanischen Efendi, einen Aufstand der lokalen Bevölkerung inszeniert, dem Anschluss an Italiens Kolonie in der Dodekanes nach deren erwartetem Sieg über die Türkische Flotte zu entgehen. Nachdem dieser vereinbarungsgemäß erfolgreich verlaufen und so die Freiheit errungen war, ersuchte man die Regierung in Athen dem jungen Königreich Griechenland einverleibt zu werden. Der umgehend abkommandierte Leutnant zur See lief mit seinem kleinen Kanonenboot in Evdilos ein und übergab feierlich die Staatsfahne. Was die Freunde aus Aghios Kyrikos so nicht hinnehmen wollten, wäre doch ihre die wahre Hauptstadt. So nahm der Leutnant die Fahne wieder an sich, fuhr um die Insel herum, wollte das Zeremoniell dort wiederholen, wurde jedoch von seinem Vorgesetzten zu wichtigeren Aufgaben abkommandiert. Man stand schließlich gerade mitten im entscheidenden Krieg gegen die Osmanen und sein Schiff wurde in den Dardanellen benötigt, wohin er sich schleunigst zu verfügen hätte.

Frei, doch alleine gelassen rief man notgedrungen im Juli 1912 den Freistaat „Elefthera Politeia Ikaria“ aus, die Annexion an Griechenland erfolgte ein oder drei Jahre danach mittels Staatsvertrag, je nachdem, ob man der offiziellen Darstellung oder der mündlichen Überlieferung folgt. „So, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat, kann man die Geschichte ja nur in den seltensten Fällen erzählen. Man merkt dann nämlich, dass Entscheidungen oft erst getroffen werden, wenn die Realität bereits Fakten geschaffen hat“, ergänzt Angelos. Auch, dass der Staatsvertrag nach hundert Jahren zu erneuern oder zu kündigen gewesen ist kaum jemandem aufgefallen, „außer einem Österreichischen Stammgast und einer Boulevardzeitung gleichen Namens, die daraufhin den Gouverneur angerufen hat. Der war von der Idee eines Anschlusses an Österreich vorgeblich begeistert, was ihn schlussendlich seinen Job gekostet hat!“ Aber, wie gesagt, der war ein Rechter, und keiner hier weint ihm eine Träne nach.

Weshalb Angelos so genau Bescheid weiß? Hab ich ihn auch gefragt, „ich habe Prof. Anthony Papalas von der University of Chicago geholfen, seine Geschichte Ikarias zu schreiben“. Und fügt hinzu, dass er in Mittelalterlicher Geschichte dissertiert hat. Schuld daran, dass er auf Ikaria gelandet ist sei aber seine Frau, vor zwanzig Jahren, als das erste Kind unterwegs war, wollte sie nicht mehr in Athen leben. „Hat deine Familie nicht Land auf Ikaria? Ziehen wir doch auf die Insel, bevor du den Rest deines Lebens in der Kanzlei sitzt, und ich zwischen Kindergarten und Universität hin und her hetze.“ Moment, Kanzlei? „Ja, eigentlich bin ich Jurist. Aber dann haben wir alles verkauft, mein Partner in der TV-Produktion hat mir den gesamten Gewinn ausgezahlt, und wir sind mit Sack und Pack abgereist, alles in und auf einem Auto!“

Die Geschichte klingt ziemlich einzigartig, und doch ist sie symptomatisch für Ikaria. Der Bäcker in Aghios Kyrikos diskutiert mit seinen Kunden, während sie auf frische Pita warten, über Chomskys generative Transformationsgrammatik, der Fischer und Wirt in Trapalo, dem wirklich letzten Ort der Insel, zu dem nur eine abenteuerliche, in die Steilküste gehauene Schotterpiste führt, wenn sie nicht gerade wieder mal verschüttet ist, unterhält sich mit dem einzigen Gast des ganzen Ortes und mir über die Konsequenzen der Rot-Blauen Koalition in diesem Österreichischen Bundesland, kennt alle Details. (Ich schwör´s!) Offensichtlich war die Idee der strammen Ideologen der Militärdiktatur, nach dem Bürgerkrieg die Linken nach Ikaria zu verbannen, weil dort, bei der „primitiven“ Landbevölkerung, ihre versponnen Vorstellungen keinen fruchtbaren Boden finden würden doch nicht so gut durchdacht.

À propos fruchtbar: obwohl das augenfälligste tektonische Merkmal der Insel die kahlen Granitbrocken und scharfkantigen Schieferformationen sind, ist sie doch geradezu unglaublich grün und wasserreich. Bis auf den Weizen wächst hier alles, was man sich wünschen kann, Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte sowieso das ganze Jahr, kein Abhang ist zu steil, um nicht ein paar Terrassen zu bewirtschaften. Und dazwischen grasen fette Ziegen und Schafe, sogar Kühe fühlen sich wohl. Und natürlich erst recht der Wein, der Pramneion hat schon Homers Helden jubeln lassen. Und auf diese Tradition beruft sich nun auch Nikos Afianes, der in Profitis Ilias, oberhalb von Christos Raches gelegen, seiner Leidenschaft frönt. In Lagen zwischen 600 und knapp 1000 Metern über dem Meer stehen seine Rebstöcke der Sorten Fokianos und Begleri, deren Früchte er in der neuen Winzerei in Komplizenschaft mit seiner Frau von modern bis ultraorthodox keltert und ausbaut.

Aus der blauen Fokianos etwa produziert er im Stahltank den klassischen, trockenen roten Icarus mit 13%, in Eiche gereift mit 14,5% Alkohol, sowie einen beeindruckend körperreichen Rosé Schaumwein. Und natürlich den bernsteinfarbenen Süßwein TAMA, der auf der International Wine Challenge in London unter 11.000 eingereichten Weinen den vierten Platz belegte, auch der weiße Begleri rangiert in Robert Parker´s Ranglisten regelmäßig weit vorne. Doch mittlerweile gilt Afianes ganze Aufmerksamkeit jenen Weinen, die in mächtigen tönernen Amphoren in der Erde reifen, ganz so wie der legendäre Pramneion. „Ich glaube, eine der Ursachen für die Langlebigkeit der Ikarioten, über die in letzter Zeit so viel geschrieben wird, und die uns das übertriebene Interesse der Athener beschert hat, findet man im Wein. Der muss seine Wurzeln auf Ikaria durch den Granit weit hinunter in den Boden treiben, bis zu 30 Meter tief. Aber ihn zu trinken reicht natürlich nicht, man muss auch so leben wie die Menschen hier. Viel gehen, wenig Stress, gesunde, natürliche Lebensmittel aus der unmittelbaren Umgebung, so schaut das Rezept aus!“

Etwas Stress kommt dann aber doch noch auf, Nikos´ Mobiltelephon läutet, konzentriert lauscht er, „Entaxi“, in Ordnung, ich komme. Es war seine Angestellte, es tut ihr Leid, sie müsse jetzt streiken. Herr Afianes muss also los, in sein Geschäft, er ist nämlich der Apotheker. Und hat Verständnis für den Streik, erklärt mir schnell noch das Griechische Gesundheitssystem sowie die Mikrobiologischen Zusammenhänge der natürlichen Gärung in der Amphore, jetzt wundert mich nicht mehr, dass er sich damit so gut auskennt. Nicht einmal die Weinbauern tun´s auf Ikaria scheinbar unter wenigstens einem akademischen Titel!

INFO

Wohnen

Hotel Atheras, Evdilos
Hat man es erst mal gefunden fühlt man sich gleich wohl. Mitten im Ort, nur wenige Meter vom Fischerhafen gelegen, versteckt sich das familiäre 3 Stern Haus in einer engen Gasse. Neben der Frühstücksterrasse wartet ein kleiner Pool, fein, wenn man von einer ausgedehnten Inselrundfahrt zurück kommt. Ab 33 Euro, www.atherashotel.gr

Evon´s Room, Faros
Evon hat hier am östlichsten Ende Ikaria´s nicht nur Zimmer, sondern auch eine Comunity eingerichtet. So erfährt man alles über kulturelle Initiativen und Festivals, aber natürlich auch wo die schönsten Strände versteckt sind. Ab 50 Euro in der Hochsaison. www.evonsrooms.com

Irida Maisonettes, Kato Raches
Der Blick auf die Bucht von Nas mit den Resten des Artemis Tempels, der Flussmündung und den Wellen, die an die Felsen rauschen ist nicht nur bei Sonnenuntergang atemberaubend. Der Garten, in welcher die 5 Maisonetten liegen wird liebevoll gepflegt, ab 86 Euro im Juli. www.irida.eu

Pension Astachi, Armenistis
„Zur schönen Aussicht“ nennt Maria Kazalas ihre Pension völlig zu Recht, ihre Doppel- und Dreibettzimmer blicken alle auf´s Meer oder den Berg. Zu Fuß ist man in wenigen Minuten an den feinsten Stränden von Armenistis, dem touristischen Zentrum Ikarias. www.island-ikaria.com/hotels/pensionastaxi

Essen

Taverna Platanos, Aghios Dimitrios
Unter der Platane trifft sich der Ort, wenn er Hunger hat. Und Jamie Oliver, wenn er mal kosten will, was richtige ikarische Küche ist. Was die Menschen hier zwar freut, sie aber lieber für sich behalten, sie wissen ja, zu viele Gäste will man hier gar nicht! +30 2275041395

Ouzerie Kialaris, Gialiskari
Man muss schon genau schauen, um den Hinweis auf die Abzweigung von der Hauptstraße hinunter zum alten Fischerhafen nicht zu übersehen. Es zahlt sich aber aus! Mittags gibt es klassische Eintöpfe und Fischgerichte, Abends dann den frischen Fang vom Tag, köstliches Flossentier jeder Größe! +30 22750 71227

Gyneikios Synetairismos Gevsis Ikarias, Christos Raches
Der Frauenverein von Raches kümmert sich um den „Ikarischen Geschmack“, in ihrem Geschäftslokal auf dem Hauptplatz von Christos Raches verkaufen sie Gebranntes, Eingemachtes, Gebackenes und Honig, man kann sich auch eine kleine Kaffeejause servieren lassen.

Machen

Agrotouristiko Kentro Ikarias, Pigi, Evdilos
Urlaub am Bauernhof kann man hier ebenso machen wie mit den lokalen Produkten kochen oder sich in die Geheimisse der Weinherstellung einweihen lassen. Wer danach nicht mehr heimfahren kann oder will findet übrigens im alten Steinhaus behagliche Unterkunft. www.ikarianwine.gr

Ktima Afianes, Profitis Ilias, Raches
Nikos und seine Gattin sind hingebungsvolle Gastgeber und stolze Weinproduzenten. Besonders interessant ist der traditionell im Pitari, der Tonamphore unterirdisch gekeltert wird. Den sollte man genau so kosten wie jenen Wein, der auf der London Wine Show einen Sensationserfolg gefeiert hat! www.afianeswines.gr

Kanga Ikarias
Wem der Sinn nach Natur und Action steht, der wird bei Kangas fündig. Das Kollektiv lokaler Tourguides bietet alles von der mehrtägigen Bergtour bis zur Kayaksafari an. https://plus.google.com/117210359977789769767/posts

IKARIA_DiePresse_11.:12.juli2015.pdf

Dieser Beitrag wurde am 2015/08/27 um 16:32 veröffentlicht. Er wurde unter griechenland, ikaria, sporaden abgelegt und ist mit , , , , , , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

Ein Gedanke zu „chomsky und der bäcker

  1. thanks 😀

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