05.50
Kurz vor sechs Uhr früh fliesst der Verkehr noch ungehemmt über die Praterbrücke richtung Donaustadt. Jetzt im Dezember kündet auch noch nicht der geringste Silberstreif am Horizont vom beginnenden Tag, ausserdem hängt dichter Nebel tief über der Stadt. Ich bin auf dem Weg nach Aspern, laut Routenplaner liegt mein Ziel in „Strasse ohne Namen“, nach Auskunft des Dienststellenleiters ist das die erste Abzweigung nach dem Motorenwerk von General Motors auf dem ehemaligen Flugplatzgelände.
Irgendwann einmal soll hier die so genannte Seestadt Aspern entstehen, heute Morgen scheine ich der Einzige zu sein, der sich hierher verirrt hat. Doch schliesslich entdecke ich vier rote Positionslichter, welche eine schlichte Halle markieren, in markantem ÖAMTC-Gelb gestrichen, umgeben von einem Stacheldrahtbewehrten Sicherheitszaun, laut Namensschild am Klingelknopf wohnt hier Christophorus 9.
In der klinisch sauberen, hell erleuchteten Halle wartet der Hubschrauber auf seinen Einsatz, geparkt ist er auf einer Holzplattform, die sich auf Schienen hinausrollen lässt. Noch sind so ziemlich alle Türen, Luken und Klappen geöffnet, orangefarbene Rucksäcke, geöffnet und übersichtlich ausgebreitet liegen davor.
Unter dem Helikopter liegt Pilot Robert Holzinger, er lässt offensichtlich Treibstoff in einen Glaszylinder ab, der Vorgang erinnert an eine Dopingkontrolle. Hat auch einen ähnlichen Grund, das, sorgsam mit einem Tuch abgedeckte, Gefäss kommt in den Spind, auf dass bei Problemen der Sprit untersucht werden kann. Ausserdem sammelt sich über Nacht Wasser, das möglicherweise in den Tank gelangt sein könnte an der tiefsten Stelle, und es wäre äusserst ungünstig, falls dieses seienen Weg bis in die Turbinen finden würde. „Ein Glaserl Wasser in die Luftansaugung schütten, und die Maschine steht schlagartig“, erklärt Robert die Sicherheitsmassnahme, nur eine von vielen, die er routinemässig jeden Tag anlässlich des Pre-Flight-Check vornimmtvornimmt. Nachdem er die Bordelektronik hochgefahren hat begutachtet er die beiden 700-PS-Kraftwerke, ausschauen tun sie wie neu, auch noch nach ettlichen hundert Flugstunden.
Währenddessen checkt Notarzt Karl Polz sein buntes Gepäck durch, er ist von Beginn an Mitglied der Crew des Christophorus 9, insgesammt schon fünfzehn Jahre mit dem Helicopter unterwegs, seit zwanzig Jahren bei der Wiener Rettung, nur Robert Glück, der Sanitäter im heutigen Team ist noch länger dabei. Dementsprechend reibungslos laufen die Vorbereitungen ab, mit der entsprechenden Routine und doch hoch konzentriert, in entspannt professioneller Stimmung.
Heute kommt schon gar keine Hektik auf, der Nebel hängt dick über dem Hangar, erst wenn die Sichtverhältnisse es zulassen, meldet der Pilot sein Team dienstbereit.
09.01
Als würden sich Notfälle an Bürostunden halten, kommt um Neun der erste Einsatzbefehl: Deutsch Jahrndorf, Verkehrsunfall, drei Verletzte, Multitrauma. Doktor Karl Polz, der heute Dienst habende Notarzt, überlässt den soeben im heissen Wasser versenkten Teebeutel seinem Schicksal, und begibt sich schleunigst hinaus zum schon in der Finsternis Einsatzbereit gemachten Eurocopter 135. Ohne jede Hektik und doch rasend schnell sitzt plötzlich jeder auf seinem Platz im Helicopter, der pre-flight-check wird routiniert abgehakt, die Turbinen kommen auf Touren, 1500 Pferdestärken heben uns knapp 90 Sekunden nach Alarmierung mühelos in den grauen, nebelverhangenem Himmel, in einer eleganten Kurve ziehen wir scharf richtung Osten. Seit sechs Uhr früh haben wir darauf gewartet, dass die Sichtbedingungen für einen Einsatz ausreichen, kaum dass Robert Holzinger, Kapitän des EC135 und Dienststellenleiter von Christophorus 9 in Wien Aspern seine Bereitschaft an die Leitstelle gemeldet hat, geht´s auch schon los. Notfallsanitäter Harald Glück, der jetzt in erster Linie Copilot ist, googelt die GPS-Koordinaten auf dem Ipad, gibt sie in den Bordcomputer ein, gleichzeitig halten er und der Pilot Funkkontakt zur Rettungszentrale, der Flugkontrolle, und dem Tower in Schwechat, auch Dr. Polz hat sich in die Konversation eingeklinkt, versucht schon mal das ideale Spital zu organisieren. Nur mit der Polizei können wir nicht kommunizieren, der einheitliche Behördenfunk funktioniert nämlich noch immer nicht, trotzdem kann ich kaum die einzelnen Anweisungen auseinanderhalten. Aus dem Nebel heraus beginnt es über der Donau leicht zu schneien, je weiter wir nach Osten kommen, desto dichter wird die Schneedecke, sogar die Fahrbahn der Ostautobahn ist durchgehend weiss. Über die Felder laufen aufgeschreckt Rehe, Hasen schlagen ihre Hacken, heute nützt ihnen ihre Tarnfarbe nichts. Dafür sind die grauen Masten der Windkraftwerke schön mit der Umgebung verschwommen, sobald der Co einen wahrgenommen hat, meldet er dies an den Piloten. Die Starkstromleitungen heben sich immerhin dunkel vom grauen Himmel ab, wir fliegen meist parallel zu ihnen, wenn wir über eine drüber müssen, dann immer bei den Masten, „die können sich nicht bewegen“, wie mir Robert versichert. Über Handy meldet sich die Polizei von der Unfallstelle, beschreibt den Landeplatz auf der Bundesstrasse zutreffend als „mittels Blaulicht wahrnehmbar.“ Noch im Landeanflug verschafft sich Notarzt Dr. Polz einen ersten Überblick, ein PKW steht beschädigt in einem Feld etwa zehn Meter neben der Strasse, ein zweiter arg gestaucht mitten auf ihr. Zwei Feuerwehrfahrzeuge, ein Notarztwagen und drei Funkstreifen sind auch schon da. Wir landen trotz des starken Windes sanft und milimetergenau in Fahrbahnmitte, ich sitze am Passagiersitz an der Türe, muss also erster raus, jetzt nur keinen Fehler machen, jede Minute könnte entscheidend sein!
09.12
Während der Rotor noch furchteinflössend seine Kreise über unseren Scheiteln zieht, eilt Dr. Polz schlitternd über die Böschung hinunter zum Mercedes im Feld. Die Fahrerin, noch leicht benommen, den erschlafften Airbag am Schoss, sitzt im Wagen, scheint keine schweren Verletzungen erlitten zu haben. Polz erkundigt sich nach ihrem Befinden, etwaigen Schmerzen, und ob sie angeschnallt gewesen sei, „ dann weiss ich gleich, wo ich nachschau´n muss. Ohne Gurt muss man immer von schweren Verletzungen des Brustkorbes oder schlimmer ausgehen!“ Nichts davon hier, ein paar Prellungen, eine kleine Platzwunde, eine Kleinigkeit für die bereits anwesenden Sanitäter aus dem Rettungswagen.
Ganz anders die Situation der beiden Passagiere die in einem alten Ford Escort, der quer mitten auf der Fahrbahn steht, von freiwilligen Feuerwehrmännern, einem Rettungsarzt, und einem weiteren Sanitäter behandelt werden. Die Unfallursache wird einem schlagartig klar, wenn man auf die Fahrbahn tritt, sie ist derart Schneeglatt, dass man sich selbst zu Fuss kaum schnell und sicher fortbewegen kann. Sehr schnell können auch die Autos nicht gewesen sein, und doch hat der relativ moderne Mercedes den alten Ford auf der Beifahrerseite mächtig deformiert. Das Bein des Fahrers wird schon vom Sanitäter behandelt, eine tiefe Platzwunde, das Blut tropft in den Schnee auf der Strasse. Schlimmer erwischt hat es seine Schwester, mit 70 immerhin neun Jahre jünger als ihr unglücklicher Chauffeur, offensichtlich aus der Gegend, denn die Männer der Freiwilligen Feuerwehr nennen sie Omi. Sie liegt hinter dem Beifahrersitz auf der Bank im Fond, ist „sicherheitshalber“, wie sie meint, hinten gesessen, war nicht angeschnallt. Dr. Polz diagnostiziert einen Bruch des Oberschenkels, möglicher Weise auch des Beckens. Während er sie für die Bergung aus dem engen, gestauchten Wagenfond vorbereitet, ihr ein Schmerzmittel verabreicht, und sie auf weitere mögliche Verletzungen untersucht, organisiert der Pilot schon die Übernahme durch ein Krankenhaus. „Meidling ist bereit“ lautet seine knappe Meldung an Dr. Polz, der nebenher überlegt, wie und wo die anderen Patienten am Besten zu versorgen sind. Wir laden die Omi behutsam in den Helicopter, sie beisst die Zähne zusammen, das kann man deutlich erkennen. Ein Polizist erkundigt sich über den Funk, wo der angeforderte Rettungswagen bleibt. Seit 40 Minuten ist er schon unterwegs, „heut´ ist´s nicht einfach, bei dem Wetter“ meint er. „Aber dass ihr überhaupt noch ´was seht´s…“
10.37
Wir heben in dichtem Schneetreiben ab, die Wolkenuntergrenze ist auch wieder gesunken, man erkennt gerade noch die Spitzen der Strommasten, die Flügel der Windräder verschwinden bei jeder Umdrehung im Nebel. Der Wind hat auch beträchtliche Stärke erreicht, Arzt und Sanitäter haben fast eineinhalb Stunden ohne wärmende Handschuhe gearbeitet, Infusionen gesetzt, Wunden versorgt, Sensoren für ihre Diagnosegeräte angesetzt. Im Kopfhörer sprechen wieder gleichzeitig sechs Stimmen, die Crew tauscht Informationen untereinander aus, Leitstelle und Unfallkrankenhaus Meidling werden informiert. Dr. Polz hält die Hand seiner Patientin, „das hilft oft mehr, als ein Beruhigungsmittel!“
10.44
Landung auf dem Dach des UKH, von oben sieht es aus, wie ein Flugplatz, die Pfleger, welche auf die Übernahme warten kennen das Procedere eindeutig ganz genau, alles läuft wie am Schnürchen. Kaum, dass Dr. Polz mit ihnen im Lift verschwindet, die nächste Anforderung: „Wien 17, Charturitzkigasse, Verdacht auf Herzversagen!“ Man kann unser nächstes Ziel gut erkennen, voraussichtliche Flugzeit: 2 Minuten, keine Masten, keine Stromleitungen. Der Rotor läuft schon auf Einsatzdrehzahl, als Polz in den Helicopter springt, wir heben ab wie ein Expressfahrstuhl, nur dass wir uns gleichzeitig um 180 Grad in Zielrichtung drehen. Keine zehn Sekunden später meldet eine der krächzenden Stimmen aus dem Äther etwas mir unverständliches, gleichzeitig bemächtigen sich G-Kräfte aus allerlei Richtungen meiner Gleichgewichtsorgane, Planänderungen werden im Helicopter in Real-Time in Richtungsänderungen umgesetzt, und aus dem Seitenfenster habe ich grossartige Aussicht auf den Westbahnhof. „Einsatz storniert!“, warum wird nicht weiter hinterfragt. „Fehlalarm, bereits erfolgte Versorgung, oder nicht mehr notwendige ist für uns kein Thema, wir kommen wenn man uns ruft, und helfen, wenn wir können!“
11.12
Wir landen wieder auf der kleinen hölzernen Plattform, auf der wir das Fluggeraät in der Früh aus der Halle gerollt haben, beim Aussteigen muss man Acht geben, nicht daneben zu steigen, so knapp ist sie bemessen, und zwar wieder haargenau auf der Markierung. Scheinbar mühelose Milimeterarbeit bei zwanzig Knoten Seitenwind!
12.05
Mittagessen aus dem Tiefkühler, grosse Auswahl, doch als der Klingelton der Mikrowelle den pawlowschen Reflex auslöst, kommt der nächste Marschbefehl. Eine Patientin ist in der Ordination der Gemeindeärztin von Wallern im Seewinkel bewusstlos zusammengebrochen. Nach rascher Untersuchung besänftigt Dr. Polz den Vater des 17-jährigen Mädchens, kein Grund zur Beunruhigung. Der Neusiedlersee, hinter dem das Landeskrankenhaus Eisenstadt mit seinen neurologischen Einrichtungen liegt, wirkt heute wie ein Ozean auf die Bewohner dieser abgelegenen Gegend. Mit dem Helicopter hingegen ist es ein Katzensprung, zwei Minuten dauert der Flug ungefähr, der Krankentransportwagen hätte Stunden benötigt.
12.55
Auftrag erledigt, das Essen steht am Tisch, und das Leithagebirge kennt Robert wie seine Westentasche. Er hat dort als Bundesheerpilot ettliche Trainingsflüge absolviert und an Manövern teilgenommen, entsprechend spektakulär gestaltet er den Rückflug. Kurz nach ein Uhr mittag `schlagen wir auf´, wie der kontrollierte Bodenkontakt von den Fliegenden offensichtlich genannt wird. Die Kasspätzle sind kalt, aber ihr Geruch hängt im Hangar und verursacht sofortigen Heisshunger bei der gesammten Crew. Doch erst wird aufgetankt, verbrauchtes Material und Medikamente nachgefüllt, das Fluggerät sorgfältig gesäubert, sowie eine erstaunliche Menge Papierkram erledigt.
15.23
„Typisch – wenn man den Heli mal so richtig sauber hat, schicken sie einen wieder los!“ Verdacht auf Herzinfarkt bei einem Arbeiter auf einer Baustelle der ÖMV in der Nähe von Gänserndorf, lautet die Diagnose des Notarztes vor Ort. Beim Anflug in zunehmender Dunkelheit zum Einsatzort fliegen wird die weitere Vorgehensweise besprochen. Der Pilot schildert, wohin er in der knappen Zeit noch fliegen kann, laut Dr. Polz scheidet das Krankenhaus Mistelbach aus, weil dort die Chirurgie nur bis 14 Uhr besetzt ist, und der Patient einen Herzkatheder benötigt. Bleibt Lainz, das heute das für solche Fälle diensthabende Spital in Wien.
15.32
Der Patient wurde von den Ersthelfern bereits für den Transport vorbereitet, liegt auf der Trage, ist ansprechbar, 46 Jahre alt. „Wenn´s Lainz wird, müssen wir einen Krankentransport organisieren“ ruft der Pilot dem Sanitäter zu, der wieder am Telephon hängt. Das Krankenhaus Lainz verfügt zwar über einen Landeplatz, der ist jedoch längst zugewachsen, deshalb müsste man am Rosenhügel landen. Unser Problem: wenn wir nach Lainz müssen, schaffen wir den Rückflug wegen der hereinbrechenden Nacht nicht mehr, um fünf vor halbfünf ist heute der so genannte bürgerliche Sonnenuntergang, nach dem der Hubschrauber nicht mehr fliegen darf.
15.49
Während des Fluges nehmen wir Kontakt mit dem AKH auf, der Pilot schildert unsere Situation, ersucht im Namen von Dr. Polz um Übernahme unseres Patienten. Die Antwort kommt unverzüglich: „Wir sind bereit!“ Und das, obwohl das AKH derzeit dank Sparfetischismus und Kompetenzstreitereien wirklich nicht über mangelnde Arbeitsauslastung klagen kann!
Der Donauturm ist im Vorbeiflug nur mehr bis zur Hälfte sichtbar, die Spitze verschwindet in den Wolken, unten auf der Tangente stockender Abendverkehr. Ein Transport mit dem Rettungswagen hätte wohl Stunden gedauert, so schweben wir nach sieben Minuten zwischen den Bettentürmen auf den Landeplatz direkt neben der Notaufnahme am Alsergürtel. Dr. Polz springt hinaus, um dem übernehmenden Arzt wichtige Informationen mitzuteilen, Robert ruft ihm nach: „Vier Minuten, dann bin i weg!“ Kurz später fliegn wir über den romantisch beleuchteten Rathhausplatz, knapp am Riesenrad und der unbeleuchtetn Spitze des neuen Messeturms vorbei retour zum Flugfeld Aspern. Das hell erleuchtete `H´ ist schon von weitem ausnehmbar, den Zaun neben dem Landeplatz markiert zusätzlich eine an Weihnachtsbeleuchtung erinnernde Lichtgirlande. „Aufschlag, sechzehn Uhr vierundzwanzig!“ Der Stolz über einen weiteren hochprofessionell zu Ende gebrachten Tag ist in Roberts Stimme deutlich zu hören.